Ein Interview mit Bischof Erwin Kräutler ist am 5. Juni 2012 in den "Salzburger Nachrichten" erschienen.
Der gebürtige Vorarlberger Erwin Kräutler ist seit 1980 Bischof am Xingu in Brasilien. Für 900 Gemeinden hat er 30 Priester zur Verfügung. Die SN fragten „Dom Erwin“, wie der Reformgeist in der katholischen Kirche 50 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil wieder aufleben könnte.
Rom soll alle Bischöfe weltweit befragen&
„Rom soll alle Bischöfe weltweit befragen“ 05.06.2012
Reform.
„Der Blaulichtpfarrer – das kann es nicht sein“, sagt Erwin Kräutler.
Eine weltweite Befragung könnte den Stillstand überwinden.
josef
Bruckmoser Der gebürtige Vorarlberger Erwin Kräutler ist seit 1980
Bischof am Xingu in Brasilien. Für 900 Gemeinden hat er 30 Priester zur
Verfügung. Die SN fragten „Dom Erwin“, wie der Reformgeist in der
katholischen Kirche 50 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil wieder
aufleben könnte.
Was ist der Mehrwert des Konzils für die Kirche in Brasilien?
Kräutler:
Sehr beeindruckt hat mich das Konzilsdokument „Gaudium et spes“
(Kirche in der Welt von heute). Das fängt so an: Freude und Hoffnung,
Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und
Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst
der Jünger Christi. Das hatte für Lateinamerika eine große Konsequenz:
den Blick der Kirche auf die Armen und Bedrängten.
Die
große Mehrheit der Bischöfe in Lateinamerika steht hinter dem Konzil,
aber viele von ihnen erwarten sich noch mehr davon. Sie sagen: Der Geist
des Konzils darf nicht ausgelöscht werden.
Was erwarten diese Bischöfe noch? Was ist offen vom Konzil?
Kräutler:
Die seelsorgliche Dimension muss weitergeführt werden. Da ist das
Konzil für mich noch nicht abgeschlossen. Hier in Europa ist die
Zusammenlegung von Gemeinden und die Überforderung von Priestern ein
großes Thema. Der Priester fährt von Ort zu Ort, darunter leidet seine
Einbindung in das Gemeindeleben und seine Beziehung zu den Menschen. Der
Blaulichtpfarrer – das kann es nicht sein.
In
meiner Diözese in Brasilien haben wir 30 Priester für 900 Gemeinden mit
600.000 Menschen auf einem Gebiet, das viereinhalb Mal so groß ist wie
Österreich.
Bei uns in Europa würden alle fragen: Wie geht das?
Kräutler:
Ja, hier spüre ich oft die Frage, ob es da noch Kirche gibt. Und ich
sage: Ja, es gibt Kirche, weil Laien in ihren Gemeinden Verantwortung
übernehmen. Sie halten Sonntag für Sonntag Wortgottesdienste, Frauen und
Männer, mehrheitlich Frauen. Zur Eucharistie mit dem Priester können
sie sich aber nur drei, vier Mal im Jahr um den Altar versammeln.
Da
stellt sich die Frage, ob diese Menschen nicht ein Recht auf die
sonntägliche Messfeier haben. Ich sage: Ja, sie haben ein Recht. Da
muss sich die Kirche im Geist des Konzils etwas einfallen lassen. Ich
will jetzt gar nicht sagen was, sondern ich sage: Wir müssen anfangen,
ernsthaft darüber zu reden.
Das heißt, die
Anliegen der österreichischen Pfarrerinitiative in Hinblick auf das
Priesteramt sind auch eure Anliegen. Das sind keine regionalen
europäischen Fragen?
Kräutler: Nein, es ist
eine Frage der gesamten Weltkirche. Wir haben in Brasilien auch junge
Priester, aber wir hinken zahlenmäßig furchtbar hinter dem nach, was die
Gemeinden brauchen. Die gesamte Weltkirche muss darüber nachdenken, was
wir tun können, dass die Menschen, die jeden Sonntag zur Kirche gehen,
dort auch die Eucharistie, das Brot des Lebens, empfangen können.
Diese
Frage haben wir brasilianischen Bischöfe in Rom schon mehrere Male
vorgebracht. Bei der Amerika-Synode 1997 haben wir sie als Thema
vorgeschlagen, aber wir sind damit nicht durchgekommen. Heute kann man
diese Frage nicht mehr wegschieben. Derzeit herrscht Stillstand. Wie
kann die Priesterfrage auf der Ebene der Weltkirche zum Thema werden?
Was tun außer abwarten?
Kräutler: Abwarten ist
zu wenig. Die Kirchenleitung sollte wirklich einen ernsthaften Schritt
dahin tun, dass sie sagt: Gut, Leute, wir beginnen, darüber zu reden.
Die
Priesterfrage muss ein Thema der Weltkirche werden. Ich glaube
allerdings nicht, dass eine Bischofsversammlung in Rom dafür ein
geeigneter Weg ist.Welchen Weg sehen Sie?
Kräutler:
Eine richtige Umfrage unter allen Bischöfen auf der ganzen Welt: Was
ist deine Meinung, wie stehst du dazu, was sagen deine Leute? Redet mit
den Priestern, den Ordensleuten, den Laien. Macht eine Versammlung und
bildet euch eine Meinung.
Ich sehe darin wirklich
eine Möglichkeit, dass wir einen Schritt vorwärtskommen. Man würde
endlich von allen Gemeinden weltweit eine qualifizierte Meinung
erfahren. Das ist der Puls der Weltkirche, den man erspüren muss. Und
diese Meinung muss ernst genommen werden. Wir glauben daran, dass der
Geist Gottes mit uns allen ist, nicht mit einer Einzelperson. Das sagt
die Apostelgeschichte ganz klar.
Nach einer
solchen Befragung müsste ein Gremium geschaffen werden – mit dem Papst
und unter dem Papst –, das sich mit diesem Puls der Weltkirche befasst.
Da kann man dann schauen, ob ein neues Konzil sinnvoll ist oder eine
andere repräsentative Großversammlung wie die Versammlungen der
Bischöfe Lateinamerikas.
Aber hat nicht in Lateinamerika selbst die Befreiungstheologie ihren Höhepunkt überschritten?
Kräutler:
Absolut nicht. Die Befreiungstheologie hat heute noch ihren
Stellenwert und muss ihn haben, weil sie biblisch ist. Und sie ist
beheimatet in den Basisgemeinden, die auf lateinamerikanischem Boden
gewachsen sind. Dagegen sind die neuen Bewegungen – katholische
Movimenti und Pfingstbewegungen – alle im Ausland entstanden und nach
Lateinamerika importiert worden.
Die werden aber von der Kirchenleitung stark gefördert.
Kräutler:
Ich würde diesen Bewegungen auch keinesfalls alles absprechen, aber
ich will ganz bewusst die andere Erfahrung der kirchlichen
Basisgemeinden in Lateinamerika zur Sprache bringen. Wir können diese
Talente, die wir in Lateinamerika haben, nicht vergraben. Aber wir
können sie nur über den Teich bringen, wenn eine Offenheit dafür da
ist.Diese Offenheit für die Befreiungstheologie hat es jedenfalls in Rom
zu keiner Zeit gegeben.
Kräutler: Das kann ich
nicht leugnen. Die Aufbruchstimmung nach dem Konzil war eine andere
Zeit. Die hat eine kalte Dusche erlebt. Anstatt auf die Kirche in
Lateinamerika zuzugehen, hat man von vornherein gesagt, die
Befreiungstheologie habe ausgedient. Da bin ich absolut nicht
einverstanden. Eine Theologie, die auch auf dem Boden
lateinamerikanischer Märtyrer gewachsen ist und immer noch wächst, hat
nicht ausgedient. Das ist ein Schlag ins Angesicht. Keine große
Theologie hat ausgedient. Ich würde nie sagen, dass Thomas von Aquin
(1225–1274) ausgedient hat.
Es gibt in Europa
viele jüngere Priester, die konservativ denken und die Berufung auf das
II. Vatikanische Konzil als Nostalgie betrachten. Wie ist das in
Brasilien?
Kräutler: Ich habe diese und jene.
Ich habe jüngere Priester in meiner Diözese, für die sind das Konzil und
die Befreiungstheologie sehr wichtig. Die setzen sich für die Armen
ein. Sie geraten deshalb mit Behörden in Konflikt, wenn sie die
Menschenrechte verteidigen. Das sind junge Priester, die sehr fromm
sind, sehr kontemplativ, die sich aber gleichzeitig so sehr für das Volk
einsetzen, dass ich eine helle Freude daran habe.
Aber
es gibt auch die anderen, die – so sehe ich das – gern die Institution
Kirche vertreten. Sie freuen sich, weil ihr Stellenwert als Priester in
den Movimenti ganz groß herausgestrichen wird.
In diesen Bewegungen ist der Priester wieder hoch angesehen.
Kräutler:
Ja, diese Priester sind angesehen. Aber die anderen, die aus der
Befreiungstheologie herauskommen, hat das Volk wirklich gern. Das ist
der Unterschied.